Der Morgen der Entscheidung ist da. Nach unseren bisherigen Erfahrungen mit Russland müssen wir nun festlegen, ob wir durch Kaliningrad wollen, oder eben nicht. In der einen Wagschale liegen die beiden Grenzübertritte, die sicher Zeit rauben werden, in der anderen liegt eben Kaliningrad. Wir entscheiden uns gegen Kaliningrad und werden statt dessen nun nach Vilnius fahren. Diese Entscheidung wird uns nach wenigen Minuten durch die ersten Posts bei Facebook als weise bestätigt. Während die ersten Fahrzeuge am frühen Morgen noch einigermaßen gut durchgekommen sind (halbe Stunde rein, zwei Stunden raus), kommen nun die ersten Meldungen von einem verzögerten Grenzübertritt an der Russisch-Polnischen Grenze. Die Polen nehmen wohl alles sehr genau, heißt es da. Nur ein wenig später dann die erste Horrormeldung. Der Fahrzeugandrang ist nun auch bei der Einreise so groß, dass mit einer Wartezeit von 6 bis 8 Stunden zu rechnen ist. Die Berechnung ist dabei denkbar einfach. Die halbe Stunde je Auto bleibt (Russen arbeiten viel mit Konstanten), nur die Anzahl der Fahrzeuge steigt. Alle Teams von uns, mit denen wir – wenn auch nur auf Umwegen – Kontakt haben, drehen um. Und so sehen einige die Stadt halt nicht. Ein anderes Team, von denen wir hören, haben ein ganz anderes Problem. Alle unsere Visa sind ausgestellt bis zum 2.7. – also übermorgen. Ein Team konnte einreisen, aber nun macht das Fahrzeug nicht mehr mit. Mit einem defekten Fahrzeug in Russland stranden und das Visum läuft ab, erzeugt deutlich mehr Sorgen und Nöte, als ein Einzelner braucht. Es sei an dieser Stelle verraten, dass das Fahrzeug noch vor Ablauf der Visa wieder flott gemacht war. Wieder einmal hat die Hilfsbereitschaft der Teams untereinander gegriffen.
Bevor wir nach Vilnius reisen, sollen wir aber die Tagesaufgabe erfüllen. Wir suchen den Hügel der Kreuze auf. Die Geschichte dahinter ist schon sehr emotional und sie wird durch das Aufsuchen mehr als verstärkt. Es handelt sich eigentlich um eine wilde Gedenkstätte an einen Aufstand. Der Staat lies diesen Hügel mit seinen Kreuzen mehrfach abtragen, doch immer wieder haben die Bewohner des Landes diesen Ort aufgesucht und einfach neue Kreuze im Gedenken an den niedergeschlagenen Aufstand aufgetsellt. Im Laufe der Zeit haben die Behörden aufgehört, hier räumend tätig zu werden. Und seit die Sowjetunion zerfallen ist, wird diese Gedenkstätte geduldet und man hat das Potenzial als touristischen Ort erkannt. So wurde erst vor kurzem ein offizieller Parkplatz angelegt (gegen Gebühr versteht sich – 0,90 Euro – automatisches Aufrunden inklusive) und der Weg zum Hügel befestigt und mit Parkbänken ausgestattet. Aber die Eingriffe haben dem Ort nicht geschadet. Am Hügel selbst hat man nämlich nicht Hand angelegt. Und so stehen immer noch zehntausende Kreuze an diesem Ort. Jedes Kreuz soll an jemanden oder etwas erinnern, einige werden mit guten Vorsätzen und Wunschen platziert, andere hingegen treiben einem sofort Tränen in die Augen. So finden wir zum Beispiel ein Kreuz vor, dass an ein junges Mädchen erinnert. Auf dem Kreuz selbst sind Unterschriften von mehreren Dutzend Menschen, die im Jenseits alles Gute wünschen. Mir wird augenblicklich anders.
Im Prinzip steht hier jedes Kreuz für Sehnsüchte, Wünsche, Trauer und Gedenken und so ist es eine ehrenvolle Tagesaufgabe, ein selbstgebautes Kreuz zu platzieren, gespickt mit dem Namen des Teams. Unser Kreuz aus Totholz und Kabelbindern würde ich jederzeit wiederfinden – es ist das einzige mit einem QR-Code.
Der Weg nach Vilnius ist begleitet von einer Vielzahl Störche. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele von Ihnen gesehen. Auf jedem Turm, fast jedem Laternenpfahl sitzen sie in ihren Nestern. Es muss hier unwahrscheinlich viel Futter geben. Die Landschaft ist hügelig mit vielen Seen, einfach schön. Da wir ja Autobahnen vermeiden müssen, haben wir sehr viel Zeit, diese Eindrücke in aller Deutlichkeit in uns aufzunehmen.
Gegen späten Nachmittag erreichen wir Vilnius, im Regen. Wir verfahren uns einmal, bekommen aber trotzdem relativ schnell den Bogen raus, in welcher Richtung das Stadtzentrum liegen müsste und parken den Wagen. Schnell noch die Parkuhr bestochen und dann machen wir einen kleinen Spaziergang in das Zentrum. Die Prachtstraße in Vilnius ist ein wirklich sehenswerter Boulevard. Uns fällt sofort auf, dass alles zehn Meter ein Mülleimer steht. Und Bänke, viele Bänke. Diese Stadt hat begriffen, wie man Menschen zum Verweilen bewegt. Inzwischen hat der Regen nachgelassen und es wird warm. Wir schlendern zum zentralen, wirklich herrlichen Platz an der Kathedrale. Wir sind genau rechtzeitig zum Glockengeläut hier. Ein wirklich schöner Moment.
Nachdem wir uns gestärkt haben, geht es nun weiter auf unserer Reise. Wir wollen noch heute so weit wie möglich kommen, denn schließlich sollen wir übermorgen schon wieder in Hamburg einlaufen und wir hatten schon gehört, dass die Fahrzeit durch Polen lang ist. Warum weiß ich nicht, denn auf der Karte ist es gar nicht so weit.