Wir stehen zeitiger auf als sonst, denn wir sind immer noch angespannt. Um uns herum haben wir nur Horrorgeschichten bezüglich der russischen Grenze gehört. Sicher, die Einreisebedingungen sind schon hart, aber wenn man sich vorher ein bisschen informiert, sollte man es schaffen, zum Beispiel nicht mehr als drei Liter alkoholhaltige Getränke mit sich zu führen. Eine Abstufung wie in der EU gibt es hier nicht. Bier ist dem Schnaps gleichgestellt, das übersehen einige und wir lesen bereits bei Facebook den ersten Eintrag, dass jemand zurückgeschickt wird.
Auch sollte man es vermeiden, offene Lebensmittel mitzuführen. Deshalb gibt es heute morgen noch einmal ein ausgiebiges Frühstück, die Reste werden an Finnlandreisende verschenkt. Dann geht es los zur Grenze. Wir haben uns den Übergang am Fluss Lotta ausgesucht, war mir irgendwie sympathisch. Nach keiner dreiviertel Stunde sind wir da. Wir fahren bei dem verlassen wirkenden Gelände an den Schlagbaum. An einer Tür sehe ich das Schild „entry“. Aha, aussteigen, reinlaufen.
Drinnen ein kleiner Raum mit Glasscheibe, wie früher die Bankschalter (die Älteren erinnern sich). Wir hören jemanden reden, irgendwo in den tiefen des Raumes hinter dieser Scheibe. Und doch sitzt der Mann direkt dahinter. Passport please. Das ist ja einfach. Also kurz hingereicht, einscannen lassen und festgestellt, dass das nur die Ausreise aus der EU war. Oh-kay.
Wir steigen in unser Auto, die Schranke öffnet sich. Gute Fahrt. Nach einem Kilometer sehen wir dann das, was uns vorher gefehlt hat. Schlagbaum hinter Schlagbaum, davor jeweils Autoschlangen. Und jeder Schlagbaum hat sein Personal mit Funke. Und Waffe. Der grimmige Gesichtsausdruck wird frei Haus oben drauf geliefert. Da wir viel Zeit haben, die Grenzsoldaten zu beobachten, stellen wir fest, dass sie ihre Neugierde nur schwer hinterm Berg halten können. Immer wieder schweifen die Blicke über die Fahrzeuge der Teamteilnehmer, mit all der bunten Beklebung. Nanu, auch nur Menschen, die ihre Vorschriften ausführen. Und irgendwie wirken sie sympathisch.
Wir bekommen noch im Auto den Vordruck zur Einreise ausgehändigt, die Meldekarte. Sie besteht aus Teil A und B. A verbleibt bei dieser Grenze, B müssen wir sorgfältig aufbewahren und bei der Ausreise abgeben. Ich Dussel verschreibe mich natürlich und bitte um einen neuen Vordruck. Da sie durchnummeriert sind befürchte ich natürlich Schwierigkeiten, aber keineswegs. Mir wird mit einem halben Lächeln ein neuer Vordruck ausgehändigt und man merkt die Gratwanderung zwischen respektforderndem Auftreten und sympathischer Mennschlichkeit. Uns wird langsam wohler.
Nach einer guten halben Stunde geht es schon weiter. Wir dürfen den Schlagbaum passieren und den Wagen auf dem eigentlichen Kontrollplatz parken. Sofort ist ein Spürhund da und schnüffelt unseren Wagen ab. Wir dürfen nun in die Baracke, den Papierkram erledigen. Zunächst werden erneut unsere Ausweise gescannt und die Meldekarten überprüft. Der Beamte lächelt sogar und macht einen Scherz. So kann es bleiben, denken wir. Das war dann die Formalität zur Einreise der Person. Jetzt folgen die Formalitäten zu dem Krempel, den wir mit uns führen.
Wenn man nach Russland einreist, sollte man am besten schon eine Adresse parat haben, bei der man wohnen wird. Macht die Sache einfacher. Wir haben so etwas nicht und wollen irgendwie nicht angeben „wild campen“, also schreiben wir einfach Camping Murmansk. Vielleicht klappt es ja. Zu verzollen haben wir eigentlich nichts, nur bei den Medikamenten sind wir unsicher, da ich wegen meiner Allergien relativ viel Zeug zur Vorsicht eingesteckt hatte. Wenn man zuviel mitnimmt, unterstellen einen die Behörden, man wolle damit handeln. Und eine feste Größe gibt es nicht. Das liegt im Ermessen des Grenzers. An dieser Stelle sei schon erwähnt, dass das gar nicht kontrolliert wurde.
Die größte und zeitraubendste Schwierigkeit ist das Ausfüllen der Papiere. Reist man mit dem Auto ein, importiert man nämlich vorübergehend einen Wertgegenstand. Das muss angegeben werden; mit Fahrgestellnummer, Baujahr, Hubraum und ungefähren Wert. Das gilt übrigens auch für Computer und Kameraausrüstung mit einem Wert über 1500$. Da die Bögen alle auf russisch sind, ist das schlichtweg unmöglich. Aber es gibt auch Vordrucke auf englisch. Und es gibt zwei Beamte, die sich immer wieder um die Teammitglieder kümmern, Fragen beantworten und bei der Abwicklung helfen. Wir sind begeistert. Zum Teil erhält man Individualbetreuung. In irgendeiner Schublade findet der eine Grenzbeamte sogar noch ein Musterexemplar auf deutsch. Ich erinnere mich in diesem Moment an deutsche Ordnungshüter und Beamte, die an dieser Stelle dann ein „die Amtssprache ist deutsch“ blaffen. Ich habe mich selbst schon diesen Satz sagen hören und werde ihn zukünftig aus meinem Repertoire streichen.
Alles weitere geht dann nach nochmaliger Wartezeit von ca 30 Minuten superschnell. Ein Posten filzt unser Auto, zu dem nur der Fahrer mitgehen darf und ich warte am Schlagbaum. Zeitweise tausche ich mich mit einem der beiden hilfsbereiten Beamten aus und werde gottseidank noch ein Dankeschön dafür los. Bisher gefällt es mir ganz gut.
Der Schlagbaum öffnet sich, wir dürfen zum nächsten vorfahren. Wieder werden unsere Ausweise kontrolliert. Der Weg wird freigegeben und wir fahren los. Gerade als man denkt, freie Fahrt zu haben kommen wir an ein verschlossenen Tor, natürlich mit bewaffnetem Grenzposten davor. Erneut eine Ausweiskontrolle und wir dürfen passieren. An der ersten Kreuzung dann noch einmal das Spiel. Ein Soldat mit Klemmbrett kommt aus einem Häuschen und gleicht unser Kennzeichen mit seiner Liste ab, wir dürfen erneut passieren. Scheinbar fahren wir über Militärgelände. Denn beim Verlassen nach knapp 90 Kilometern steht erneut ein Soldat und kontrolliert unsere Ausweise. Mich fragt er sogar auf deutsch, wie ich mit Vornamen heiße. Ich bin so perplex, dass ich nur die Antwort hervobringe. Er sagt mir seinen, lächelt und lässt uns durch. Erstaunlich, so ein Russland.
Was ebenfalls erstaunlich ist, ist die Qualität der Straße. Man muss auf alles gefasst sein und darf sich nicht von einer scheinbar durchgehenden Teerdecke täuschen lassen. Löcher, Absätze und Querrillen in der gefühlten Größenordnung „Grand Canyon“ fordern dem Fahrzeugführer alles ab. Anspruchsvoll in jeder Hinsicht. Die Gegend drum herum erinnert allerdings eher an Mordor, die Eingeweihte verstehen mich. Haufenweise abgestorbene Bäume in sumpfiger Umgebung. Unwirtlich und unwirklich. Aber mittendrin eine gut besuchte Wasserentnahmestelle. Diese öffentlichen Brunnen gibt es in Russland zu Hauf an den „Bundesstraßen“. Scheinbar gibt es hier kein flächendeckenderes Wasserversorgungssystem. Bei einer Pinkelpause dann stolpere ich über die nächste Kuriosität. Während ich mich erleichtere sehe ich nur wenige Zentimeter entfernt eine leere Schrotpatronenhülse. Oh, denke ich – und entdecke weitere, und weitere, und weitere. Als ich den Blick nach oben hebe, sehe ich, dass wirklich alles auf diesem Parkplatz durchlöchert ist, besonders die Schilder. Mir wird mulmig, beeile mich und möchte ganz schnell weiter. Auf der gesamten Strecke nach Murmansk entdecken wir das Phänomen. Hier hat jemand wirklich ein Problem.
Wir erreichen Murmansk und möchten uns unserer heutigen Tagesaufgabe stellen. Wir sollen uns vor dem ersten atomar betriebenen Eisbrecher fotografieren lassen. Welcher das ist, war bekannt, aber finde die Lenin mal in einer Stadt, gegen die Lüttich und Duisburg wie Perlen der Architekturgeschichte wirken und du wirklich kein einziges Schild lesen kannst. Wir entscheiden uns für die Eichhörnchen-Methode und kämpfen uns mühsam auf Hafengelände am Ufer entlang. Dabei sahen wir auch Perlen des Sozialismus. Eine Dame hat als Beruf Weichenwärterin auf dem Hafengelände. Die Hauptbeschäftigung hierbei ist das Fegen der manuellen Apparatur mit einem Reisigbesen. Ist auch ein Beruf hier. Ansonsten führt Murmansk diesen Eindruck fort und vor allem aus. Es wirkt hier so, wie vor Urzeiten im Sozialismus vergessen. Für uns ein krasser Kulturschock.
Und trotzdem gibt es noch die Erfüllung der Tagesaufgabe.
